
Warum wir frei von Scham Sex mehr genießen sollten!
Im Grunde wussten wir es ja schon immer, doch jetzt bestätigte es auch die Weltgesundheitsorganisation WHO: Lust und Leidenschaft beim Sex sind wichtig und gesund. Alles klar soweit? Die neue Forschungsreihe war eine der ersten, die sich explizit auch auf unser lustvolles Empfinden konzentrierte und so versuchte, mit Vorurteilen aufzuräumen. Dabei kritisierte die Organisation, dass wir von offizieller Seite oftmals zu wenig über das Thema Sex erfahren. Gerade Aspekte wie Lust, Erotik und Leidenschaft finden sich in den meisten seriösen Informationen gerade auch im Bereich Sexualerziehung an Schulen fast gar nicht. Noch düsterer sieht es dann damit aus, wenn auch queere sexuelle Lust dargestellt oder besprochen werden soll.
Darf an Schulen über Lust gesprochen werden?
Die WHO hat mehrere hundert Studien geprüft und sieht einen dringenden Nachholbedarf, denn Sex ist weit mehr als Arterhaltung. Zudem vermitteln viele dieser Informationsangebote unterschwellig Angst und starke Bedenken – die Sexualerziehung verkommt so zu einer sehr prüden Angelegenheit, die lieber oder ausschließlich über Geschlechtskrankheiten und Schutzmöglichkeiten, anstatt über Freude und Lust aufklärt. Ein Umdenken sollte bereits in unseren Schulen einsetzen, was angesichts der Tatsache, dass selbst viele Lehrer nicht schamfrei über Ekstase und Lust reden können, eine schwierige Aufgabe der Zukunft ist. Immer mehr Sexualwissenschaftler setzen sich dabei in den vergangenen Jahren dafür ein, dass sich unsere Sicht in Bezug auf Sexualität endlich verändert und wir Aspekte wie Lust und Hingabe ganz bewusst und frei von Scham mit einbeziehen. Nüchtern betrachtet ist es absurd, dass die allermeisten Menschen weltweit Lust beim Sex ganz selbstverständlich und naturgegeben empfinden können, wir es aber anscheinend für vollkommen falsch halten, mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen in unseren Bildungseinrichtungen frei und ungehemmt darüber zu reden und aufzuklären. Diesen schambesetzten Blick auf Sexualität und Lust geben wir damit beinahe automatisch und oftmals unbewusst an die nächste Generationen weiter, die sich erst einige Zeit oder Jahre später daraus vielleicht befreien kann – ein Entwicklungsprozess, der bei weitem nicht bei allen jungen Menschen stattfindet, aber wahrscheinlich gerade bei Queers und Homosexuellen durchs eigene Coming Out und der damit verbundenen ersten echten Selbstreflektion des eigenen sexuellen, auch lustvollen Empfindens befördert werden kann.
Das Pleasure Project, welches die neue Studie in Zusammenarbeit mit der WHO durchgeführt hat, veröffentlichte seine Erkenntnisse im Online-Fachjournal PLOS ONE. Darin wird festgehalten: “Ein wichtiger Grund, warum Menschen überhaupt Sex haben – nämlich die Lust – wird in den meisten Teilen der Welt nur unzureichend angesprochen. Spricht man beispielsweise über den Gebrauch von Kondomen, sollte man nicht nur das Vermeiden übertragbarer Krankheiten im Blick haben, sondern auch klarstellen, dass die Nutzung von Kondomen auch eine sehr erotische Erfahrung mit sich bringen kann.“ Beide Organisationen stellten dabei weiter klar, dass Erotik und Lust ein fester Bestandteil der Sexualität sind: „Die Sexualität umfasst das körperliche Geschlecht, Geschlechtsidentität, Geschlechterrollen, sexuelle Orientierung, Erotik, Lust, Intimität und Fortpflanzung. Sexualität wird erlebt und ausgedrückt durch Gedanken, Fantasien, Sehnsüchte, Glauben, Haltungen, Werte, Verhalten, Praktiken, Rollen und Beziehungen.”
Wann lernen wir, uns für Lust nicht mehr zu schämen?
Es mag für einige von uns nichts Besonderes sein, dass Sex automatisch auch mit Lust und Leidenschaft, also den sinnlichen Aspekten von Sexualität, in Verbindung steht. Doch auch abseits von konservativen und stark religiösen Prägungen herrscht auch bei vielen queeren und eigentlich weltoffenen Menschen teilweise die Denkweise vor, dass Lust immer noch etwas „dreckiges, schmutziges und schamhaftes“ an sich hat. Das Gegenteil ist aber der Fall – Lust, Ekstase, Leidenschaft und die Freude an der ganzen Bandbreite sexueller Spielarten sind wesentliche und vollkommen zu akzeptierende Bestandteile unserer Sexualität. Wir brauchen uns nicht dafür schämen, lustvolle Wesen zu sein. Im Gegenteil, diese Lust kann unser Leben massiv bereichern und das auf ganz vielen unterschiedlichen Ebenen. “Die Bejahung der menschlichen Sexualität und der Gründe, warum Menschen Sex haben, könnte ein wichtiger Weg sein, um sicherzustellen, dass Maßnahmen zur sexuellen Gesundheit wirksam sind. Unsere Untersuchung zeigt, dass Programme und Aufklärungsmaßnahmen, die ein umfassendes Verständnis von sexueller Gesundheit vermitteln und anerkennen, dass sexuelle Erfahrungen lustvoll sein können, nachweislich nicht nur das Wissen und die Einstellung zur sexuellen Gesundheit, sondern auch die Safer-Sex-Praktiken verbessern“, so die Studie weiter. Kurzum, erst wenn wir uns eingestehen, dass wir genießen sollten, Lust empfinden können und Geilheit zulassen dürfen, können wir unsere Gesundheit verbessern und stärken – und haben dann auch Safer-Sex-Angebote besser im Blick.
Lust siegt über Jugendwahn und Körperkult
Ein wesentlicher Aspekt, um künftig besser mit unserer Lust umgehen zu können, ist der Umgang mit unserem eigenen Körper. Hier besteht gerade in der Gay-Community noch massiver Nachholbedarf. Eine britische Studie zeigte, dass rund die Hälfte aller Homosexuellen unzufrieden mit ihrem eigenen Körper ist. Vier von fünf Kerlen fühlen sich zudem stark unter Druck gesetzt, möglichst sportlich und gut auszusehen. Dabei wird die Wahrnehmung innerhalb der Community anscheinend immer verzerrter. In zwei Studien der American Psychological Association wurde untersucht, wie Schwule zum Thema Übergewicht stehen. Das Ergebnis: Schwule Männer empfinden ihr Gegenüber viel früher als “zu dick“ als heterosexuelle Männer. Bodyshaming und Ausgrenzung aufgrund von Äußerlichkeiten steigen dabei in der Community seit Jahren an. Wenn es dann allerdings um die bloße Triebbefriedigung geht, verschwinden die eigenen engen Grenzen körperlicher Begehrlichkeiten hinter dem dringenden Wunsch nach sexueller Befriedigung – allerdings zu dem Preis, dass wir unterbewusst abermals Scham empfinden, der Lust „nachgegeben“ zu haben. Beim Sex sind viele Kerle also nicht mehr wählerisch. Zu diesem ernüchternden Ergebnis kam eine Umfrage des Portals markt.de – weder das Alter noch das Aussehen spielten dann für Dreiviertel aller Befragten eine Rolle. Anstatt dass wir uns jetzt darüber freuen, dass Oberflächlichkeiten wie Jugendwahn und Körperkult nicht über unsere Lust obsiegen, deuten wir dies abermals oftmals als Schwäche, die es zu kritisieren gilt.
Vielleicht müssen wir das alles einfach aus einem anderen Blickwinkel betrachten? Ist es nicht schön, dass all die übertriebenen Richtlinien bezüglich der eigenen Schönheit und der Attraktivität der Anderen unwichtig werden, wenn es zur Intimität kommt? Homosexuelle werden in den breiten Medien immer wieder gerne bis heute als triebgesteuerte Wesen dargestellt, einhergehend mit einer direkten oder wenigstens indirekten Herabsetzung ihres Lebensmodells. Vielleicht aber liegt in diesem Fokus auf Spaß am Sex auch abseits aller überhöhten Rollenbilder die wahre Befreiung. Kann es sein, dass unser Sex uns mehr verbindet, als uns bewusst ist? Dass die Lust am anderen Kerl uns befreit? Sind wir liberaler, wenn wir nackt sind? Immerhin spielen auch Themen wie Geld und Intellekt für die Mehrheit der Befragten eine untergeordnete Rolle. Viele Homosexuelle lassen die Lust also bereits einen wesentlichen Bestandteil ihres Sexuallebens sein, ganz so, wie die WHO sich das im Sinne einer besseren physischen wie psychischen Gesundheit wünschen würde. Jetzt muss diese Erkenntnis wahrscheinlich nur noch bei uns im Kopf ankommen. Am Ende des Tages können wir also selbst entscheiden, ob wir die Hingabe zu Lust, Begierden und Trieben in unserer Sexualität als Befreiung oder Degradierung unseres Selbst wahrnehmen wollen. Fakt dagegen bleibt, dass Sex für die allergrößte Mehrheit unter uns zu einem der wichtigsten Ankerpunkte eines erfüllten Lebens gehört. Und wenn wir gelernt haben, Lust frei von Scham zu leben und erleben, vielleicht verraten wir am Ende auch den Heterosexuellen, wie sie das auch hinbekommen. Oder? (jh)



